Monday, December 23, 2013


Genau heute vor 50 Jahren!
...UND FRIEDE AUF ERDEN...
 
   Ich war 18 Jahre alt, im Wirtschaftswunderland Deutschland, lebte mit meiner Mutter in permanentem Kriegszustand und dieses Weihnachten hatte sie es vorgezogen allein in den Hügeln des Bergischen Landes wohl etwas Ski zu fahren und friedliche Feiertage zu erleben.
   Dieses Weihnachten war ich allein zu hause.
   Was tun?    Ich nahm den Bus nach Düsseldorf, der nächsten Großstadt, und trieb mich in der „Altstadt" herum (an der längsten Theke der Welt!), wo die Menschen herum rasten, um am letzten Weihnachtstag letzte, vergessene Geschenke zu kaufen, während bereits die ersten lärmenden Weihnachts-Säufer auftauchten. Es würden mehr werden im Laufe des Abends – einsamen Seelen, die sich durch die „Stille Nacht“ trinken mussten.
   Dann fiel mir ein einzigartiges junges Paar auf. Ich hatte sie nie zuvor gesehen. Er war ein kleiner, wunderschöner Asiate mit langen, strubbelig hoch stehenden Haaren und sie eine drahtige, hübsche Blonde mit unverschämt kurzen Haaren.
   Sie waren offensichtlich „on the road“. So was nannte man damals „Gammler“.
   Ich traf sie wieder in einer der wenigen Bars, wo Gammler bedient wurden. „British Mike“, ein lokaler Penner und Army-Deserteur, stellte mich den beiden vor. Sein Name war Duc und ihr Name war Puck.
   Duc kam aus Vietnam, wo er als Zwölfjähriger ein Guerilla-Kämpfer gewesen war. Er entkam und flüchtete nach Europa, wo er mit einem einzigen Stück Gepäck herumreiste: Einer Ledertasche mit einer riesigen, fünf mal sieben Meter messenden Flagge – aus kostbarer, roter Seide mit einem goldenen Vietcong-Stern in der Mitte!
   Puck kam aus Holland und sprach natürlich holländisch, französisch, englisch und deutsch. Duc sprach nur französisch und vietnamesisch. „British Mike“ englisch und ein bisschen deutsch und ich sprach deutsch und englisch...…und sie hatten keine Unterkunft für diese Nacht!
   Am Heiligen Abend!
   „Da ist kein Platz in der Herberge ...“ war für mich nicht akzeptabel. So lud ich die drei Fremden ein, Weihnachten mit mir zu feiern! Am Spätnachmittag nahmen wir den Bus in die Kleinstadt, wo ich mit meiner Mutter eine Drei-Zimmer-Wohnung bewohnte, in einer schäbigen Neubau-Stadtrand-Siedlung – rechteckige Beton-Boxen, gebaut für Flüchtlinge wie uns und andere von Armut betroffene Überbleibsel des zweiten Weltkriegs.
   Sobald wir angekommen waren, begann Duc, der in Düsseldorf ein paar Tüten voll Lebensmittel eingekauft hatte, zu kochen und er kreierte eine absolut spektakuläre Mahlzeit. Vietnamesisches Chicken und Gott weiß, was für andere fremdartige, köstliche Beilagen, die zwar nicht identifizierbar waren, aber umso besser schmeckten.
   Wir saßen um den Tisch im gutbürgerlichen Wohnzimmer meiner Mutter (Ich hatte den peinlichen, röhrenden Elch abgehängt und unter der Couch versteckt.) und zelebrierten das Essen mit einem anständigen Beaujolais.
   Und da saßen wir nun – jeder von uns aus einer völlig anderen Welt, und – verdammt – die Sprachbarriere erlaubte uns kaum verbal zu kommunizieren – aber wir waren voller Liebe, ehrlich, offen und bereit alles miteinander zu teilen.
   Mike hatte ein kleines Stück Haschisch, das wir nach dem Essen rauchten. Es war der zweite Joint meines Lebens und ich hatte keine ungewöhnlichen Erlebnisse, mit Ausnahme der Frakturschrift auf den gestickten, weihnachtlichen Spitzendeckchen, die sich unauslöschlich in meine Netzhaut gravierte: „und Friede auf Erden“, was meine perfekte Glückseligkeit dieses Moments reflektierte.    Wir – vor einigen Stunden noch völlig Fremde – praktizierten bedingungslose Liebe und alles umfassenden Frieden, wie Jesus es von uns erwartete.
   Wir mussten – und würden es schaffen!
   Weltfrieden noch in dieser Generation!!!
   Aber wir hatten unsere Pläne ohne die Nachbarn gemacht!
   Wir spielten noch ein paar exquisite Schallplatten von Mahalia Jackson und Thelonious Monk bevor wir ins Bett gingen.
   In der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung bekamen Puck und Duc das Zimmer meiner Mutter, „British Mike“ schlief auf der Couch im Wohnzimmer und ich in meinem eigenen Zimmer und Bett.
                                                          Und Friede auf Erden!

   Am nächsten Tag fuhren wir alle nach Düsseldorf und dort erfuhr ich, wie Duc und Puck ihren Lebensunterhalt verdienten. In Südfrankreich kauften sie einen Posten Aquarell-Drucke auf Aquarell-Papier für einen Franc das Stück. Der Eiffelturm und der Montparnasse, etc… – die Drucke sahen aus wie echte Aquarelle. Hier auf dem Bürgersteig verkauften sie sich für fünfzehn Deutsche Mark. Das war ein anständiger Gewinn!
   Natürlich ging es nicht wirklich um die Aquarell-Drucke – es war die exotische Niedlichkeit dieses Paars, die Aufmerksamkeit erregte und die Bilder verkaufte – und sie schwammen im Geld – ein paar hundert Mark am Tag, mindestens!
   Das ehemaligen Leben als Guerilla hatte allerdings Spuren in Ducs Psyche hinterlassen: Er war eine lebende Zeitbombe! Beleidigungen, für normal Sterbliche kaum wahrnehmbar, konnten ihn innerhalb von Sekunden in eine mörderische Tötungs-Maschine verwandeln.
   Ducs Vergangenheit bestand aus schlimmen Geschichten von Menschen, die er aus nichtigen Gründen fast ermordet hatte. (Puck zeigte mir ein paar Zeitungs-Ausschnitte aus Frankreich!) Er hatte immer zerkratzte Hände, denn wenn er sich in einem Geschäft nicht richtig bedient fühlte, reichte ein heftiger Karate-schlag um das Schaufenster in Splitter zu verwandeln. Dann musste man schnell rennen.
   Aus unbekannten Gründen schien Duc mir zu vertrauen und immer wieder wurde ich geholt um Situationen, wie zum Beispiel diese, zu entschärfen: Die physische Konfrontation mit einem hitzköpfigen Zuhälter, der zweimal so groß und breit war wie Duc und sich vor ihm aufgebaut hatte. Die Huren liebten Duc…
   Dem Zuhälter fiel es schwer dieses feminine Männlein ernst zu nehmen.
   Er hatte natürlich keine Ahnung, dass dieses kleine Männchen ihm mit bloßen Händen das Herz aus dem Brustkorb reißen konnte! Es wurde mein Job Duc wegzuziehen, bevor etwas passierte und – erstaunlich genug – in der Regel folge er mir!
   Und er war so geheimnisvoll, wie er schön war.
   Jahre später aßen wir zu Mittag im Münchener Hauptbahnhof, als er plötzlich zur Toilette ging, ohne je zurückzukehren
   Für diese spontanen Verabschiedungen war er bekannt und er machte das mit allen…
   Das nächste Mal, ein halbes Jahr später, traf ich ihn wieder… auf dem Boulevard San Michel in Paris...
   Zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls feierten wir Weihnachten. Duc kochte weiterhin köstliche, exotische Gerichte und wir hörten meine kümmerliche, aber exzellente Sammlung von Jazz-Platten und wir tanzten ekstatisch zu Ray Charles' „What'd I say“ .
   Das entging den Nachbarn natürlich nicht und ein paar Tage lang beobachteten sie, wie ich in der Begleitung von drei ungewöhnlichen Personen, die sie für Frauen hielten (zweifellos wegen des nicht-konformen Stils unserer Haare und dergleichen!), aus dem Haus kam. Und sie konnten es kaum erwarten den Vermieter über die Orgien in seinem Mehrfamilienhaus zu informieren.
   Sie hatten keine Ahnung, dass ich noch nie Sex mit einer Frau gehabt hatte, dass ich eine Teenager-Jungfrau war, mit großen romantischen Ideen über die Liebe und, dass ich mich mitten in einer religiösen Offenbarung über Weihnachten, Christus, Liebe und Frieden befand.
    Der Vermieter erklärte mir, meiner Mutter würde das Appartement gekündigt! Ich argumentierte, dass meine Mutter gar nicht anwesend gewesen sei. All dies sei meine Schuld und ich würde am Ende des Monats ausziehen.
    Er akzeptierte meinen Vorschlag.
    Inzwischen hatten sich meine Gäste auf den Weg, nach wohin-auch-immer gemacht.
    Sie verließen die Wohnung sauber, nichts wurde gestohlen, und die Küche war sauberer als vorher, aber ohne einen Krümel Essbares.
    Duc und Puck verabschiedeten sich mit dem Ziel Kanarische Inseln, um dort das Ende des Winters abzuwarten und wir vereinbarten, uns so bald wie möglich dort zu treffen.
   Als meine Mutter aus ihrem Urlaub zurückkam, war sie verständlicherweise verärgert und als sie von meinen Reiseplänen hörte, schickte sie mich zu einer Psychotherapeutin.
   Sie hatte mir nicht gesagt, wohin sie mich schickte: „Es ist für die Versicherung, sie wollen, dass du diesen Arzt aufsuchst, am Donnerstag, es für die Versicherung ...“
    Sie log mich an, denn den Begriff „Psychotherapeut“ erwähnte sie nie – bis ich das Wort unmissverständlich neben der Praxistür las.
    „Die glauben, ich bin verrückt!“ Wurde mir klar.
    Ich ging trotzdem hinein.
    Drinnen war es unerwartet düster – alle Vorhänge waren zugezogen – ein paar Stehlampen verbreiteten ein spärliches Licht. Die Silhouetten einiger weniger Patienten bevölkerten die Sofas, schwer auszumachen im Halbdunkel des Wartezimmers.     Ich wurde sofort vorgelassen und von einer freundlichen, älteren Dame begrüßt, die mehr Falten in ihrem Gesicht hatte, als ich in meinem kurzen Leben gesehen hatte.
    Sie wollte wissen, was sich ereignet hatte, und nachdem ich mit meiner Geschichte fertig war, blickte sie über ihren Brillenrand und fragte ernsthaft: „Sag mal, hast Du Freunde?“
    Ja, nur wenige – aber diesen, so fühlte ich, konnte ich mein Leben anvertrauen! Seit ich mich als Außenseiter erkannt hatte – wurden alle anderen Außenseiter unmittelbar zu Freunden – und da sie Schmerzen verstanden, waren sie auch Freunde in der Not.
    Nicht nur Freunde für sonnige Tage!
    Die Therapeutin war erfreut dies zu hören und senkte ihre Stimme und schaute mir tief in die Augen: „Sie müssen verstehen, Ihre Mutter ist fast sechzig – sie stammt aus einer völlig anderen Welt und hat keine Ahnung wovon Sie reden. Ich wünsche Ihnen viel Glück auf Ihrer Reise und vergessen Sie nicht, viele Nüsse zu essen, denn das ist wichtige Gehirn-Nahrung“.
   Ich bin noch immer dankbar, dieser überraschend klarsichtigen Therapeutin begegnet zu sein...    „Friede auf Erden“ hatte mich aus meinem Haus katapultiert, meinem Job, beendete eine zukünftige Karriere und ruinierte meinen sozialen Status, aber es schickte mich in die Welt hinaus, auf die Straße, wo ich viele Jahre verbringen sollte.
Aus dem Buch „DER GAMMLER“ Brummbaer, bei die „Grüne Kraft“, 2011


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